DIE LEBENSGESCHICHTE EURER OMA

Ich schlief und träumte,
das Leben sei Freude.
Ich erwachte und sah,
das Leben war Pflicht.
Ich handelte, und siehe,
die Pflicht war Freude.
RABINDRANATH Tagore

Martha Schwalbe geb. Zuttergeboren am 17. Januar 1921 in Ernstweiler (heute Zweibrücken, Stadtteil Ernstweiler) in dem Haus, in dem ich heute noch lebe. Ich liebe dieses alte Haus, welches meine Großeltern 1879 erbaut haben, heute mehr denn je und ich hoffe, dass von dieser Liebe auch ein bisschen auf Euch übergegangen ist, denn es war und ist auch für Euch ein zweites Zuhause. Ich war immer froh, dass Euer Opa nie den Wunsch hatte, neu zu bauen. Ihm waren schon die notwendigen Modernisierungsmaßnahmen suspekt und meine Freude am Planen und Bauen ließ er mich gerne an anderen Objekten verwirklichen.

Oma war auch mal Kind

Als wohlbehütetes Bürgermädchen wuchs ich auf, geliebt von meinen Eltern und meinem 12 Jahre älteren Bruder Otto. Die Volksschule besuchte ich hier in Ernstweiler, welches 1926 zur Stadt Zweibrücken eingemeindet worden war. Anschließend ging ich auf das Städtische Mädchenlyzeum, bis zur Mittleren Reife Ostern 1938. Mit den Fremdsprachen Französisch und Englisch fehlten mir die Alten Sprachen zum Übertritt auf das Gymnasium. So fuhr ich täglich nach Kaiserslautern zum Besuch der Frauenoberschule, um das Fachabitur zu machen. Im Sommer 1939 wurden durch eine Schulreform (eine Folge der “Gleichschaltung” im Dritten Reich) alle Gymnasien zu Oberschulen und die Alten Sprachen damit zum Wahlfach, so dass ich im Juni 1939 auf das Realgymnasium in Kaiserslautern wechseln konnte, wo ich im Februar 1940 das Abitur ablegte.

Krieg und Studium

Zweibrücken war seit Kriegsbeginn am 1. September 1939, wegen der Frontnähe zu Frankreich und wegen seiner Lage mitten im Westwall, zwangsevakuiert. Mein Vater war nach dem Polenfeldzug als Reichsbahnbeamter nach Polen abkommandiert worden, wohin er meine Mutter mitnehmen konnte. Für Abiturientinnen gab es zwei Möglichkeiten: Reichsarbeitsdienst oder Pflichtjahr. Ich entschloss mich zum Pflichtjahr, weil ich das bei Onkel und Tante Albert Zutter, einem Bruder meines Vaters, in Ilsenburg ableisten konnte, welche dort eine große Obstplantage nebst Hühnerfarm besaßen. So war ich flexibel und konnte auch meine Eltern in Polen besuchen. Da Onkel und Tante kinderlos verstarben, kommt von ihnen  unser heutiger Grundbesitz in Ilsenburg, den Ihr alle kennt. Wir konnten ihn über die DDR-Zeiten retten, nicht zuletzt weil ich durch meine Anwesenheit dort gute Bekannte hatte, welche die Verwaltung übernahmen.

Nach der Rückkehr nach Zweibrücken begann ich mein Jura-Studium an der Universität Straßburg, das nach erfolgreichem Frankreichfeldzug wieder deutsch geworden war. Leider schloss die Universität wegen des Herannahens der Front im Sommer 1944, noch ehe ich mein Examen machen konnte. Der Kriegsdienstverpflichtung zum Reichssicherheitsdienst (eine üble Sache) konnte ich entgehen, da meine Mutter erkrankt war. Aus einer großen Jugendliebe war inzwischen eine Freundschaft geworden, und auch das war ein Teil meiner Jugend.

Die nochmalige Evakuierung Zweibrückens im Herbst 1944 verschlug uns nach Niederbayern, von wo wir erst im August 1945 in das völlig zerstörte Zweibrücken zurückkehren konnten, in ein zwar beschädigtes, aber bewohnbares Haus.

Die Universitäten blieben noch ein weiteres Jahr geschlossen und 1946 kam Euer Opa, mit dem ich seit Weihnachten 1944 verlobt war – wir hatten uns während des Studiums in Straßburg bei Familie Streve kennen gelernt – , nach den unvermeidlichen Irren und Wirren der Nachkriegszeit, nach Zweibrücken und wir entschlossen uns, 1947 zu heiraten. Ein Jahr später im Mai 1948 wurde Eure Mami geboren, und da Euer Opa der Ansicht war, dass ich ihm später als Hilfe in der Arztpraxis dienlicher sei denn als Juristin, nahm ich mein Studium nicht wieder auf.

Nachkrieg: Arbeiten

Das Nachkriegsdeutschland hatte uns ab 1945 ohnehin eine sehr schwere Zeit beschert. Alle Wirtschaftsgüter waren beschlagnahmt und bewirtschaftet, Lebensmittel gab es nur ein Minimum auf Karten. Tausch und Schwarzhandel blühten, ganz besonders bei uns in der französischen Besatzungszone. So entschloss ich mich, zwei Äcker, welche meine Eltern an einen Bauern verpachtet hatten, selbst zu bearbeiten. Mit Kartoffeln, Mais, Mohn und Zuckerrüben waren wir fast Selbstversorger. Das Saatgut und einige Hühner hatten wir uns vorsorglich aus Niederbayern mitgebracht. Leicht gefallen ist mir diese Zeit als “Kleinbäuerin” nicht; aber wie alles im Leben eine gute und eine schlechte Seite hat, so lernte unsere Generation aus diesen Jahren, dass man sich in allen Lebenslagen behaupten muss. Sehr geholfen hat mir dabei meine glückliche Veranlagung, das Glas immer halb voll zu sehen, wenn es für viele halb leer ist.

Nach seiner Tätigkeit als Assistenzarzt am Evangelischen Krankenhaus hier in Zweibrücken, ließ sich Euer Opa 1950 als praktischer Arzt nieder. Wegen der herrschenden Wohnungsnot wagten wir den Anfang hier im Haus, und wie Ihr seht, ist daraus ein Dauerzustand geworden. Mein Leben spielte sich fortan zwischen Haushalt und Praxis ab, und ich war schon froh, dass sich meine Mutter, die mit uns im Hause lebte - mein Vater war 1950 gestorben – bis zu ihrem Tod im Jahre 1971 um das Kochen kümmerte.

Meine Tätigkeit als Schöffin beim Jugendschöffengericht und - während der Gymnasialzeit Eurer Mami - 7 Jahre als Vorsitzende des Schulelternbeirates waren eine kleine Verbindung nach draußen. 14 Jahre lang war ich auch Vorsitzende des “Bundes der Ehemaligen des Neusprachlichen Gymnasiums”, das aus dem früheren Mädchenlyzeum hervorgegangen war. Noch heute arbeite ich gerne mit den jungen Leuten im Vorstand zusammen.

Interessant waren die 6 Jahre, in denen wir junge amerikanische Soldaten mit ihren Familien im Hause wohnen hatten. Neben den französischen Besatzungstruppen waren sie als US-Nato-Truppen hier stationiert. Ich konnte mein Englisch verbessern, was mir auf unseren späteren Reisen sehr nützlich war. Der Kontakt zu einigen dieser jungen Familien riss nie ab. Sie leben heute über die USA verstreut durchweg in sehr guten Verhältnissen und es besteht ein reger Reiseverkehr herüber und hinüber, auch zwischen den nachfolgenden Generationen. Die größten Nutznießer aber seid Ihr, die Ihr alle schon wiederholt drüben wart, zum Verbessern Eurer Sprachkenntnisse. Viel Freude hat mir auch immer wieder die Vorbereitung und Durchführung von Festlichkeiten und sonstigen Einladungen bereitet, was noch heute unseren großen Freundes- und Verwandtenkreis zusammenbringt, in den auch Ihr hineingewachsen seid. Haben doch alle irgendwann auch mal “Babysitter” bei Euch gespielt, wenn ich etwas Unaufschiebbares zu erledigen hatte.

Familienwachstum: Enkel

Bei Frau Fach schmeckten Holger die Apfelpfannküchle besonders gut, wenn sie ihn am Kindergarten direkt vor ihrer Haustür abholte.
Und Frau Grauenhorst ging mit Gregor am liebsten in den Rosengarten. Als Dr. Tholen als Orthopäde den Rat gegeben hatte, ihm wegen eines kleinen Gehfehlers die Schuhe verkehrtherum anzuziehen, machten die Passanten sie auf diesen vermeintlichen “Fehler” aufmerksam. Tante Elisabet und Onkel Otto sprangen gerne bei Astrid und Markus in die Bresche, wobei die Schildkröte in ihrem Garten für Markus Hauptanziehungspunkt war. Bei Tante Ruth Loth waren es die Feuersalamander im Steinbruch, die ihn faszinierten. Da zeichnete sich wohl schon seine spätere ausgeprägte Liebe zu Echsen du ähnlichem Getier ab, was Opa und mich auch bewog, im Jahre 1989 während unserer gemeinsamen Südamerika-Reise mit ihm einen einwöchigen Abstecher auf die Galapagos-Inseln zu machen. Inzwischen war er sogar nochmals mit Kim dort. Tante Maria nahm Euch öfter mit in die Stadt und spendierte Euch gerne ein Eis.

Als die Familie nach und nach größer geworden war und ich das Kochen für Euch nicht aufgeben wollte, weil Eure Mami voll berufstätig und außer Haus war, musste ich mich ganz schön anstrengen, alles unter einen Hut zu bringen. Zeit war Mangelware und die Gedanken waren meist schon bei der nächsten Arbeit. So konnte es passieren, dass ich Klein-Astrid beim Einkaufen einmal vergaß. Nachdem alles im Kofferraum verstaut war, fuhr ich los. Als ich zurückkam, stand das gute Kind ruhig und vergnügt an der Stelle, an der ich sie verlassen hatte. Holger, ca. 5jährig, musste sogar einmal zwei Stunden wartend auf der Mauer vor der Musikschule sitzen, bis ihn die Musiklehrerin mit nach Hause nahm und seinen Hunger stillte. Auf Wunsch bekam er Rührei und Butterbrot. Als ich ihn abholte, wollte sie ihn von der Stelle weg “adoptieren”, weil er ihr und ihrem Mann so viel Freude gemacht habe. Ich hatte derweil mit Hunsicker den Vorgarten in der Maerckerstraße neu bepflanzt und mich erst bei eintretender Dunkelheit an Holger erinnert.[4] Die Familie quittierte diese “Verfehlungen” stets mit viel Humor, sodass ich nicht in Stress geriet. Jedes Jahr ein Erholungsaufenthalt , meist am Gardasee, und ab und zu eine Fernreise in die schöne weite Welt, waren Höhepunkte in einem von Arbeit geprägten Leben. Gerne haben Opa und ich Euch dann später auch zu Wettkämpfen und Turnieren begleitet, wenn Eure Eltern verhindert waren, und wir waren immer stolz auf Eure sportlichen Erfolge. 

Leben nach dem Beruf

Weniger schön war 1987 mein Sturz von der Fensterbank in die Badewanne beim Gardinen aufhängen. Wie es passieren konnte, weiß ich nicht; aber der Schreck war groß, als ich feststellen musste, dass das Fußgelenk abgerissen war und der Fuß nur noch an der Haut baumelte. Umso größer war die Freude, als die Ärzte nach 10 Tagen feststellten: wir haben Glück, es gibt eine Heilungstendenz. Schon nach 18 Tagen durfte ich nach Hause, weil ich unter ärztlicher Aufsicht war und konnte Euch mit Hilfe von Rollstuhl und Krücken wieder bekochen, vor allem weil Frau Lisa mir sehr zur Hand ging.

Nach Beendigung der Praxistätigkeit 1989 wurde es etwas ruhiger in unserem Leben. Geblieben ist uns die Freude mit Euch, und es gäbe manch kleine Geschichte zu erzählen. Aber wo soll ich anfangen und wo aufhören? Es genügt, wenn Euer Papi noch immer mit großer Freude die Geschichte erzählt von dem Teller, den ich aus Ärger auf Gregors Kopf zerschlug, während doch Holger der eigentliche Missetäter war. Für Eure Blessuren war Opa zuständig. Ihm sei deshalb ein großes Lob! Mit seinen geschickten Händen hat er all Eure kleinen und großen Wunden vorbildlich versorgt. Bester Beweis: Holgers klaffende Stirnwunde, die er sich bei einem Zweikampf mit Gregor zugezogen hatte. Nur mit geübtem Auge ist sie heute noch zu erkennen. Eingestehen muss ich auch, dass Ihr es mit mir nicht immer leicht hattet. Trotz der in den 70er und 80er Jahren hochgelobten antiautoritären Erziehungsmethode hielt ich es - in den Stunden, die Ihr bei uns wart - lieber mit einer Erziehung zu Fleiß und Ordnung, mit liebevoller Strenge und natürlich unterstützt von Euren Eltern.

Heute

Heute sind unsere Kontakte anderer Art! Die politischen Diskussionen mit Markus bei seinen Besuchen und am Telefon, auch nachts von 0 bis 1 Uhr, bedeuten mir sehr viel. Natürlich sind wir nicht immer gleicher Meinung, aber gerade dann bewundere ich seine Toleranz und Fairness mir und anderen gegenüber. Dass er sein Studium der Politikwissenschaft mit der Note 1 abgeschlossen hat, erfordert meinen Respekt und ich wünsche ihm für die Promotion einen ebenso guten Erfolg.

Astrids Berichte über ihr Medizinstudium sind mir eine Freude, ganz besonders zu der Zeit, als sie zur Famulatur in San Francisco weilt. Telefon und e-mail lassen mich die Entfernung vergessen. Seit sie Ehefrau und Hausfrau ist, gehen des öfteren auch telefonische Kocherläuterungen nach Ulm. Bei ihrer Gelehrsamkeit und ihrem Willen muss ich befürchten, dass sie mich schon bald überflügeln wird.

Ein gelegentlicher Kinobesuch mit Holger oder ein Besuch mit Gregor im Internet-Café lassen mich manchmal mein Alter vergessen. Die Wunderwelt von Elektronik, Computerwissenschaft und E-mail-Kommunikation werde ich nicht mehr begreifen lernen, obwohl mir Eure fortschrittliche Familie diese immer wieder vertraut machen will. Holger wünsche ich nach seiner Lehre als Mediengestalter Bild und Ton und nach dem geplanten Studium viel Glück, das er in der Medienbranche auch brauchen wird. Dass Gregor neben der Schule sich die ersten Sporen in der Computerbranche verdient, ist sicher eine gute Grundlage für seine Berufswahl nach dem Abitur.

Kim und Christoph gehören inzwischen auch zur Familie. Über Kims sportliche Erfolge, neben ihrem Studium, - Weltmeisterschaftsdritte, Aufnahme in den Olympia-Kader - freue auch ich mich. Christoph ist mir ein lieber Gast. Seine gelegentlichen kleinen Hilfen bei Autoproblemen bringen ihm Punkte.

Abwechslung bringt auch Euer Papi mit seinen vielen Aktivitäten und “Einquartierungen” bei mir. Sportler aus aller Welt, Paneuropa-Freunde, Franzosen aus der deutsch-französischen Begegnungszone oder auch Kutschenfahrer, die ein ganz besonderes Völkchen sind, machten schon Opa immer großen Spaß.Last not least Eure Mami! Mit ihr verband uns immer eine tiefe Freundschaft und nach Opas Tod gab sie mir das Bewusstsein, nie allein zu sein mit irgendwelchen Problemen. Ihr ganz besonders, aber auch Euch allen, danke ich, dass es Euch gibt.
 



Vor Euch...

... liegt nun ein kurzer Querschnitt meines Lebens. Zu jeder Epoche wäre noch Wesentliches hinzuzufügen, aber das würde diesen Rahmen sprengen. Ihr sollt mich auch so in Erinnerung behalten, wie Ihr mich kennt und täglich erlebt, mit meinen guten und schlechten Seiten. Vor allem aber sollt Ihr wissen, dass alles, was ich für Euch getan habe, stets aus großer Liebe geschah. Schön wäre es, wenn mein Leben mit Gottes Hilfe in diesen ruhigen Bahnen noch ein bisschen dahingleiten könnte, auch um mich erleben zu lassen, wohin das Leben Euch noch führen wird. Ist dies ein unbescheidener Wunsch in meinem Alter? Wer ist schon wunschlos glücklich, drum sei er mir verziehen.

Dies schrieb Euch, zum Nachlesen und Nachdenken,

Eure Oma

Im Frühjahr 2000
 
 


[4] Die Musikschule hatte es in sich. Auch ich habe Holger dort einmal vergessen, hatte also viel Verständnis für Omas Nöte, war sogar richtig froh, dass auch ihr dieses Missgeschick passierte und ich nicht allein Fehler machte (die Lektorin).