Imatinib-Geschichte

Ich veröffentliche hier die von mir leicht bearbeitete und stark gekürzte Deepl-Übersetzung eines Textes von 2006 über die Geschichte von Imatinib, dem Wirkstoff in einem Medikament namens Glivec, das gegen Chronische Myeloische Leukämie hilft. Der englischsprachige Originaltext stammt von einer pharmaindustrienahen populärwissenschaftlichen Webseite, fasst dennoch die Fakten der frühen Entwicklungsgeschichte, die in der Wikipedia zu kurz kommen, gut lesbar zusammen und ist nur noch im Internet-Archiv zugänglich. Andere Aspekte rund um Glivec – etwa die Preisproblematik und die Kämpfe um die Verfügbarkeite von Generika, z.B. in Indien, fallen jedoch unter den Tisch, genauso wie neuere Entwicklungen, Stichwort Resistenzen gegen Imatinib, Tyrosinkinase-Hemmer der zweiten Generationen und Medikamentenabsetzversuche aufgrund von Immunreaktionen, wofür neuerdings die körpereigenen NK-Zellen  verantwortlich gemacht werden (Einführung: „Die Waffen des Immunsystems: Wie Killerzellen zwischen körpereigen und körperfremd unterscheiden„).

Anmerkungen meinerseits in eckigen Klammern: [].
Lesezeit (bei ca. 250 Wörtern pro Minute): etwa 8 Minuten

 

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Imatinib blockiert CML-Enzym, by Boghog, CC BY-SA 3.0, Link

 

Im Jahr 2001 genehmigte die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA Glivec, ein Medikament gegen chronisch-myeloische Leukämie (CML), das sich als bahnbrechend erweisen sollte. Was dieses Medikament sowohl stark als auch sanft macht, ist, dass es sich auf die Störung eines bestimmten Proteins konzentriert, das den Krebs verursacht. Diese Spezifität ermöglicht es, dass das Medikament stark ist und gleichzeitig andere Enzyme geschont werden. Molecular Targeting nennt sich dieser Ansatz. Auf menschlicher Ebene bedeutet molekulares Targeting deutlich reduzierte Nebenwirkungen und deutlich erhöhte Überlebenschancen.

Zentral ist vielleicht das Jahr 1990: Damals bekamen Dr. Elisabeth Buchdunger und Dr. Jürg Zimmerman, beide von Ciba, das später in Novartis aufging, einen Arbeitsauftrag: Verfeinern Sie das Molekül, das das Enzym blockiert, das die chronisch-myeloische Leukämie (CML) auslöst. Tun sie dies, ohne andere Mitglieder derselben Familie, die Kinasen genannt werden, zu schädigen. Denn die sind für die Funktion des Körpers erforderlich. Zwei Jahre und etwa 400 Moleküle später hatten die beiden ForscherInnen und ihre Kollegen und Kolleginnen STI-571 alias Imatinib entwickelt, das Jahre später als Glivec auf den Medikamentenmarkt kommen sollte.

Die Geschichte von Glivec begann eigentlich drei Jahrzehnte zuvor, 1960, als Wissenschaftler der University of Pennsylvania feststellten, dass ein Chromosom in den Blutzellen vieler CML-Patienten kürzer als normal war – es fehlte ein großer Teil seiner DNA. Das Stubby-Chromosom wurde „das Philadelphia-Chromosom“ genannt: Zum ersten Mal wurde ein Chromosomendefekt mit Krebs in Verbindung gebracht. Wissenschaftler hatten damit einen vielversprechenden Hinweis, aber sie hatten noch nicht die Werkzeuge, um diesen Hinweis zu nutzen, um das Geheimnis der CML zu lösen. Dreizehn Jahre später war es soweit, als ein Forscher der University of Chicago entdeckte, dass sich das fehlende Ende des kurzen Chromosoms bewegt und mit einem anderen Chromosom fusioniert hatte.

In den 1980er Jahren konnten Wissenschaftler mit Hilfe der Genetischen Kartierung zeigen, dass die beiden Enden der gebrochenen Chromosomen ein krebserregendes Protein produzierten, bekannt als Bcr-Abl. In den Jahren 1986 und 1987 wurde das Protein als Tyrosinkinase identifiziert, eine Art Enzym, das unter anderem das Zellwachstum und die Zellteilung reguliert. Die Zellen, „established from the peripheral blood of a 36-year-old woman with chronic myeloid leukemia (CML) in blast crisis in 1987“, in denen sich das zeigen lässt, gibt es bei der Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH zu kaufen, ab 120,- € pro Portion. Im Labor lässt sich mit diesen Zellen der leukämische Mechanismus nachbauen: Bcr-Abl ändert die normalen genetischen Anweisungen der Zelle und blockiert das Signal, das den Körper auffordert, die Produktion weißer Blutkörperchen einzustellen. Läuft das im menschlichen Körper ab, dann bedeutet das: Die sich immer schneller und schließlich sogar in unreifem Zustand vermehrenden weißen Blutkörperchen verursachen Schmerzen, lähmende Krankheiten und allzu oft den Tod. Nur drei von zehn neu diagnostizierten CML-Patienten überlebten damals statistisch mehr als fünf Jahre.

Vor der Möglichkeit der täglichen Einnahme von Glivec sahen sich die Patienten zwei Behandlungsmöglichkeiten gegenüber: einer risikoreichen Knochenmarktransplantation oder einer täglichen Infusion von Interferon mit Nebenwirkungen, die „wie ein schlimmer Grippefall an jedem Tag des Lebens“ beschrieben wurden. Mit der Entdeckung, dass ein einzelnes Enzym CML verursachen kann, hatte die medizinische Forschung ein klares Ziel. Die Suche nach einem Medikament, das die Tyrosinkinase Bcr-Abl blockieren könnte, stand auf der Tagesordnung. Ciba-Geigy, der Schweizer Pharmakonzern, dessen Medikamentensparte später Teil von Novartis wurde, hatte bereits ein aktives Programm zur Suche nach Molekülen, die krebserregende Tyrosinkinasen hemmen und das auf Brustkrebs und verschiedene solide Tumore abzielte.

Dr. Zimmermann, Medizinchemiker und Dr. Buchdunger, Zellbiologen:

„Aus dem bestehenden Kinase-Programm hatten wir ein Molekül, das eine gewisse Aktivität gegen das Enzym zeigte, aber schwach, nicht-selektiv und toxisch war“, sagt Dr. Zimmermann. „Die Toxizität unterstützte die Hypothese, dass wir nicht alle Kinasen hemmen sollten. Es gibt Hunderte von Kinasen in einer gesunden Zelle, und viele sind wichtig für die Haushaltsführung, wie z.B. den Stoffwechsel. Wir mussten die Aktivität der Verbindung erhöhen und sie so feinabstimmen, dass sie den guten Kinasen nicht schadet.“

Es war eine Teamleistung. Dr. Zimmermann und seine Kollegen würden ein Molekül entwickeln und synthetisieren, und Dr. Buchdunger und ihre Kollegen würden das Molekül gegen das krebserregende Enzym testen.

„Sie würde uns sagen, dass die Verbindung nicht selektiv ist oder dass sie nicht in die Zelle eindringt und ich müsste kommen, um eine andere zu finden“, erinnert sich Dr. Zimmerman. „Ich würde das Molekül wechseln. Es ist ähnlich wie bei einem Schlüsseldienst, wenn er einen Schlüssel passend machen muss. Sie ändern die Form des Schlüssels und testen ihn. Passt es? Wenn nicht, ändern Sie es erneut. Das Molekül muss in eine Tasche des Enzyms passen… Wir mussten es viele Male tun. Das war frustrierend, aber es hält dich am Laufen. Mir persönlich würde es langweilig werden, schon wenn ich es nur einmal versuchen müsste. Du lernst aus deinen Fehlern. Man lernt, wie man einen besseren Job machen kann.“

„Man geht von einem Schritt zum nächsten“, sagt Dr. Buchdunger. „Wenn Sie eine Verbindung finden, die in Bezug auf Spezifität und Potenz interessant aussieht, dann testen Sie sie auf Toxizität, und Sie hoffen und beten. Drück mir die Daumen, dass es die nächste Hürde nimmt.“

Neben der Suche nach einem aktiven und selektiven Molekül mussten die Wissenschaftler auch ein Molekül finden, das oral in Pillenform eingenommen werden konnte.

„Die orale Bioverfügbarkeit war eine große, große Hürde“, sagt Dr. Zimmermann. „Für uns war es eine Selbstverständlichkeit. Wir wollten eine bahnbrechende Behandlung, bei der der Patient zu Hause bleiben kann und nicht alle Nebenwirkungen durchlaufen muss. Wir mussten zurück ins Labor, um die Aufnahme des Medikaments zu verbessern, ohne Aktivität und Selektivität zu verlieren.“

Novartis hatte mit Dr. Brian Druker, einem Hämatologen und Onkologen mit spezifischer Expertise in Tyrosinkinasen im Vergleich zu CML und dann dem Dana-Faber Cancer Institute in Boston zusammengearbeitet, um die von Buchdunger und Zimmerman identifizierten Leitsubstanzen zu analysieren. Dr. Drukers Arbeit betonte insbesondere eine Verbindung, und seine Arbeit ermöglichte es dem Unternehmen, sich auf diese eine Verbindung zu konzentrieren. Die Verbindung, die zu Glivec werden sollte, wurde 1992 synthetisiert [, nachdem große Datenbanken bekannter chemisch stabiler Moleküle nach passenden Vorbildern zu durchforsten waren – in wissenschaftlichen Artikeln ist immer wieder die Rede von in etwa: „an initial lead compound was identified by the time-consuming process of random screening, that is, the testing of large compound libraries“, so einer der zentralen Artikel zum Thema. Dazu kam die zu dieser Zeit aufgrund neuer digitaler und robotischer Möglichkeiten aufkommende Methode des Hochdurchsatz-Screenings zum Einsatz, bei der damals automatisiert an mehreren Hunderten Substanzen biochemische, genetische oder pharmakologische Labortests durchgeführt werden konnten.1 ]

Mitte der 1990er Jahre ging es um die Vorbereitung klinischer Studien. „Es muss so viel passieren, bevor man es wagt, das Präparat einem Patienten zu geben“, erklärt Dr. Buchdunger. [Leberkrebs bei Versuchen mit Hunden hätte beinahe zum Abbruch der Versuche geführt. Versuche mit Mäusen und Affen waren vielversprechender. Vielleicht hätte es die sich widersprechenden Tierversuche gar nicht gebraucht?] Die erste Phase-I-Studie [klinische Versuche mit Menschen] begann im Juni 1998. Die Ergebnisse dieser Vorstudien waren dramatisch. Fast alle CML-Patienten, die das Medikament einnahmen, reagierten. Die meisten Patienten erlebten eine signifikante Verringerung der Anzahl der weißen Blutkörperchen und eine Verringerung oder ein Verschwinden der Anzahl der Zellen, die das krebsauslösende Chromosom enthielten. Darüber hinaus berichteten die Patienten nur über minimale Nebenwirkungen. Die Wirksamkeit des Medikaments verbreitete sich schnell in der CML-Community – durch Mundpropaganda und Internet-Patienten-Chatgruppen.

Eine der Patienten, die durch die Studiendaten ermutigt wurde, war Suzan McNamara. Nach der Diagnose CML im März 1998 begann Frau McNamara ihren Kampf gegen die Krankheit mit einer Kombinationstherapie aus Hydroxyharnstoff und Interferon. Sie begann, lähmende Nebenwirkungen zu erleben, darunter Depressionen, Gewichtsverlust, Haarausfall und Müdigkeit, die so schwerwiegend waren, dass sie ihre Arbeit einstellen musste. Sie versuchte, sich für eine klinische Studie mit Glivec zu registrieren, aber zu diesem Zeitpunkt war die Versorgung nur für die begrenzte Anzahl von Patienten ausreichend, die für die Phase I Studie benötigt wurden. In dem Wissen, was für einen Unterschied das Medikament für sie und andere bedeuten könnte, zirkulierte Frau McNamara eine Petition an Mitglieder der Internet-Support-Gruppe und sammelte etwa 4.000 Unterschriften. In der Petition wurde Novartis aufgefordert, die Entwicklung des Medikaments schneller voranzutreiben. Im Oktober 1999 sandte sie die Petition zusammen mit einem Brief an Dr. Dan Vasella, Chief Executive Officer von Novartis. In dem Schreiben erklärte Frau McNamara, wie ermutigt CML-Patienten zu den Daten aus den Studien waren, und bat darum, die Studien zu erweitern, damit mehr Patienten teilnehmen konnten. Frau McNamara und Tausende anderer CML-Patienten erhielten durch die daraufhin ausgeweiteten Studien Zugang zu Glivec, das damals noch unter dem Code STI-571 lief.

Die positiven Ergebnisse der klinischen Studien veranlassten die U.S. Food and Drug Administration (FDA), dem Medikament die „Fast-Track“-Stufe zu verleihen. Am 10. Mai 2001, zehn Wochen, nachdem der Antrag auf das neue Medikament gestellt worden war, genehmigte die FDA Glivec für die Behandlung mit Philadelphia chromosom-positiver CML in der Blastenkrise, beschleunigten Phase oder in der chronischen Phase nach Versagen der Interferontherapie. [In Deutschland war der Wirkstoff spätestens 2001 im Rahmen von Studien und ein Jahr später regulär zulässig, wenn die Standardtherapien versagten. Seit 2003 ist Glivec als Standardtherapie bei CML zugelassen. Seit 2017 sind auch in Deutschland Generika auf dem Markt, die teilweise nur ein 20stel des Novartis-Produkts kosten. Auf der Basis der mittlerweile für Imatinib geschlossenen Rabattverträge (z.B. TK) sind die Patienten sogar zum Umstieg auf das billigere Generikum verpflichtet. Mehr dazu als Pro und Contra.]

 



Anmerkungen

  1. Hier geht die urbane Legende, dass die entscheidende Datenbank aus der ehemaligen Sowjetunion stammte. Ich finde da keine Belege. Eine vage Ahnung hab ich hier und hier und hier, dass das in die richtige Richtung führen könnte – wenn man mit dem mir fehlenden biochemischen Sachverstand und etwas Russisch nachhaken könnte. Aber Einschlägiges finde ich nicht. Auffällig ist nur, dass häufig die Rede ist vom Screening über Datenbanken, dass diese aber nie als Quellen genannt werden. Die Legende geht so: Im Westen endeckte man mit dem Kausalwirkungsparadigma den Funktionszusammenhang der CML. Im Osten hingegen wurde seriell gearbeitet: Es wurde massenhaft und systematisch synthetisiert, zunächst nur mit dem Ziel, zu sehen, was unter bestimmten Bedingungen stabil ist. Diese Syntheseergebnisse wurden in Datenbanken zusammengefasst. Erst nach der „Öffnung“ der sowjetischen Pharmaforschung wurden diese Datenbanken für die westlichen Pharmakonzerne zugänglich. Neben automatisierten Screeningstrecken war also auch der Zugriff auf die Datenbanken nötig. Beides wurde erst nach 1990 möglich. []

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